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Frank Vickery:
Roots and Wings

Kommentar:

Kaum eine andere europäische Nation hat in den letzten 2 Jahrzehnten so viele junge, erfolgversprechende Theaterautoren heranwachsen sehen wie Grossbritannien. Der Waliser Frank Vickery ist einer von ihnen, und er hat mit "Roots and Wings" (seinem bereits fünfzehnten Theaterstück) ein Thema angepackt, das vor allem im anglo-amerikanischen Raum immer ein Tabu war. Er nähert sich dem Thema so behutsam und einfühlsam, dass man sich als Leser und Zuhörer sofort einfangen lässt. Es ist ein Stück, das schmerzlich und komisch zugleich ist, das sehr schnell Sympathiegefühle für die Hauptperson erweckt. Seine Charaktere sind komplex angelegt und ihre Verhaltensweisen für jeden nachvollziehbar.

Sofort zu Beginn begegnen uns mit Ruby und Griff zwei Personen, die den Zuhörer durch ihre Lebendigkeit und ihre Verschiedenartigkeit in den Bann ziehen.

In Ruby sehen wir die Mutter, die sehr viel Liebe und Kraft in die Erziehung ihres Sohnes gesteckt hat, die mit vielen Schwierigkeiten fertig geworden ist. Sie war diejenige, die Nigels erste Fragen zur Sexualität beantworten musste, sie war und ist Nigels Vertrauensperson, die jede seiner Reaktionen kennt, und der Nigel auch als erster seine homosexuellen Neigungen offenbarte. Sie hat einen Teil seiner seelischen Last übernommen und sie allein getragen, weil sie mit ihrem Mann nicht darüber reden konnte: "I had to cry on my own and carry on as if nothing had happened when all my world was collapsing around me." Sie hat sich auch in dieser Situation nicht ihrer Verantwortung entzogen ("That's what mothers are for"), weil alle diese Belastungen ihre Liebe zu ihrem Sohn nicht haben verändern oder gar beeinträchtigen können. Sie hat gelernt, sich auf Fakten einzustellen, sich selbst in ihren Wünschen zurückzunehmen und Unabänderliches zu akzeptieren. Sie ist diejenige, der man das Erziehungsprinzip von "roots and wings" abnimmt. Sie ist eine rational geprägte und gleichzeitig stark emotionale Frau, liebenswert, klug, aufrichtig: eine starke Persönlichkeit.

Auch ihr Mann Griff ist das, was man im Englischen einen 'round character' nennt. Er erscheint zunächst stur, verschlossen und unwillig, das Anderssein seines Sohnes zu akzeptieren. Er, der immer selbst gerne im Mittelpunkt stehen wollte, leidet darunter, was seine Mitmenschen über ihn und seinen Sohn denken. Es belastet ihn weniger, dass sein Sohn homosexuell ist, als dass Nigel in seiner Transvestitenshow dies öffentlich zur Schau stellt. Seine heile, kleinbürgerliche Welt ist durch Nigel aus den Fugen geraten und er wehrt sich dagegen. Sein Leben ist ein Rückzugsgefecht geworden, seine Waffen sind Vorwürfe und Trotz. Gegen Ende ist er fast bemit-leidenswert, jemand, der immer noch auf eine Wende "zum Besseren" hofft.

Die Eltern von Nigels Freund Kevin sind zwar weniger differenziert angelegt, aber als Charaktere durchaus griffig.
Vernon scheint für Außenstehende sein Leben fest im Griff zu haben, aber Nigel demaskiert ihn: Vernon handelt wider besseres Wissen, als er seinen Sohn zur Ehe überredet, er heuchelt Sympathie, als er Nigel in sein Haus aufnimmt. Er ist ein Opportunist, der auch in der Ehe keine Standfestigkeit zeigt; in Bezug auf seinen ''one-night-stand' sagt er: "Suddenly it was on the plate and I took it."

Rita ist diejenige, die das Leben am meisten gebeutelt hat: Sie hat erleben müssen, wie ihr Sohn sich in eine Ehe flüchtete (deren Scheitern sie vorhersah), wie er dann aus ihrem Leben verschwand ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben und dann mit Nigel "im Schlepptau" zurückkehrte. Da Vernon ihr keine Hilfe war, ist es zur Entfremdung zwischen ihnen gekommen (beide haben nach Auswegen mit anderen Partnern gesucht) und jetzt wartet sie hilflos am Krankenbett darauf, dass ihr Sohn aus dem Koma erwacht. Ihre Hilflosigkeit drückt sich in vielen Formen aus: Niedergeschlagenheit, Selbstvorwürfen, Beschuldigungen, Solidarisierung mit Ruby.

Nigel ist – neben Ruby – die schillerndste Figur: Er versucht, seine Unsicherheit, sein Suchen nach Anerkennung durch seinen z.T. derben Humor und durch 'show' zu überdecken.  Doch hinter dieser Fassade wird immer wieder ein verletzlicher Mensch sichtbar, der bei seiner Selbstfindung ohne Hilfe war und in einer ödipalen Wut seinem Vater unterlassene Hilfe beim Heranwachsen vorwirft. (“Where were you when I didn't know what I was ... who I was?”) Er ist ihm gegenüber aggressiv, lässt aber im Gespräch mit der Krankenschwester erkennen, wie sehr er nach Harmonie sucht und sich eigentlich ein wirklich intaktes "Familienleben" wünscht, in dem seine Liebe zu Kevin und seine Zuneigung und sein Verantwortungsgefühl für dessen kleine Tochter Kate ihren Platz haben sollen.

Die Krankenschwester spielt zwar eine Nebenrolle im Leben der anderen Personen, aber sie wird vom Autor eindrucksvoll skizziert: eine intelligente, warmherzige, lebenserfahrene Person, die mehr Qualitäten hat als berufsmäßigen Optimismus. Sie ist diejenige, die Nigel intuitiv versteht und ihm in ihrer aufrichtigen Natürlichkeit Hilfe geben kann.

 

Frank Vickery thematisiert in Roots and Wings Homosexualität nicht mit erhobenem moralischen Zeigefinger, um z.B. für Toleranz zu werben. Nein, er zeigt uns einen Menschen, der seinen (gleichgeschlechtlichen) Partner bedingungslos liebt, der in dieser Beziehung alles durchlebt, was in der Regel von den Mitmenschen nur in heterosexuellen Beziehungen als "normal" akzeptiert wird: Zuneigung, Vertrauen, Eifersucht, Verlustängste, Liebeskummer.

Seine Lage ist nur um so schwieriger, als eine solche Beziehung ständig von den Menschen in seinem Umfeld beobachtet, misstrauisch beäugt, moralisch bewertet wird. Hier klingt “Roots and Wings” an Sartres "L'enfer, c'est les autres" (Huis Clos) an, wenn Nigel zu seinem Vater sagt: "Yes, well — we seem to be stuck with each other no matter what, don't we?" – Oder wenn Nigel am Ende zu Vernon sagt: "Vern, I am your devil. I'm going to be on your shoulders twenty-four hours a day."

Im zweiten Akt, wo die Bühne zweigeteilt ist und die Handlungen gleichzeitig stattfinden, macht Frank Vickery dieses Interdependenzverhältnis der Menschen szenisch sichtbar: Die Dialoge sind so miteinander verzahnt, dass die jeweiligen Gespräche aufeinander bezogen sind und die Aussagen z.T. Antworten auf die Fragen aus dem anderen Raum sein könnten.

Wolf-Werner Pickhardt

 

 

 

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