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Willy Russell:
Blood Brothers

Kommentar:

Willy Russell (Jahrgang 1947) wurde in den siebziger Jahren als Theater- und Fernsehautor bekannt und schaffte 1980 den internationalen Durchbruch mit seinem Zwei-Personen-Stück "Educating Rita". Sein Versuch, sozialkritische Themen auch in Form eines Musicals anzupacken, war auf Anhieb erfolgreich: "Blood Brothers " ist seit Juli 1988 ununterbrochen in London zu sehen und gehört bereits jetzt zu den fünf erfolgreichsten Musicals der Londoner Theaterszene überhaupt.

Als Autor, der aus Liverpool stammt und auch heute noch dort wohnt, ist Willy Russell mit den schwerwiegenden sozialpolitischen Problemen dieser Stadt vertraut und hat sie in "Blood Brothers" in engagierter Weise zum Thema erhoben. Liverpool ist die Stadt mit der höchsten Arbeitslosenquote in England (30% der Männer zwischen 18 und 34 Jahren sind arbeitslos), es ist die Stadt, in der eine große Zahl der Haushalte aus allein erziehenden Müttern besteht, eine Stadt, in der viele junge Menschen ohne Zukunftsaussichten heranwachsen und wo die Kriminalitätsrate hoch ist, wo Gewalttätigkeiten aus Langeweile, Verwahrlosung und Mangel an Perspektiven entstehen. (Man denke an den Mord an einem zweijährigen Jungen durch zwei Zehnjährige im Februar diesen Jahres!)

Der Kontrast zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten wird uns von Willy Russell eindringlich vor Augen geführt: Zwillinge, die in verschiedenen gesellschaftlichen Klassen heranwachsen: der eine wird von der Mutter als ihr achtes Kind behalten, sein Zwillingsbruder aus Angst, die "welfare people" könnten ihn in ein Heim stecken, von der Mutter an ihre kinderlose Arbeitgeberin abgegeben. Der eine, Mickey, wächst ohne schulische Förderung auf, verliert seine Arbeit, wird wegen "Schmierestehens" bei einem Überfall verurteilt und gerät aus dem seelischen Gleichgewicht. Der andere, Eddie, wird in Schule und Universität gefördert und schlägt eine erfolgreiche Juristenlaufbahn ein. Bei gleicher Herkunft der beiden Jungen erhebt sich zwangsläufig die Frage: Ist ein solch unterschiedlicher Lebensweg nicht letztlich Schuld der Gesellschaft? Deshalb läßt Russell den Erzähler seiner Geschichte am Ende mit bitterem Sarkasmus fragen:

'And do we blame superstition for what came to pass?
Or could it be what we, the English, have come to know as class?

Einer der erschütterndsten Sätze in diesem Musical sind Mickeys Worte kurz vor dem Ende, als ihm seine Mutter die Wahrheit über ihn und seinen Zwillingsbruder beichtet. Voller Verzweiflung klagt er seine Mutter an, gibt ihr die Schuld an seinem mißlungenen Leben:

 "Why didn't you give me away? I could have been him!

Diese Worte verletzen nicht nur die Gefühle seiner Mutter zutiefst, sondern klagen das ganze bestehende Gesellschaftssystem an: In einer anderen Umgebung hätte er bessere Lebenschancen gehabt wäre er ein anderer Mensch geworden. D.h. die eigene Identität ist ihm nicht mehr wichtig, weil er mit ihr Scheitern, Hoffnungslosigkeit, ein Leben ohne Perspektiven verbindet; er weiß, daß er sich in einer sozialen Sackgasse befindet.

Hier zeigt sich Russell als streitbarer Autor, der sich engagiert mit den realen Gegebenheiten unserer Zeit auseinandersetzt, und der seinen Zuschauern sein soziales Anliegen deutlich vor Augen führt. Dieses ist möglicherweise auch der Grund, warum er die Form des Musicals gewählt hat: hier kann er die Gefühle seiner Zuschauer noch unmittelbarer ansprechen mit Melodien, die dem Zuhörer eingängig sind und als Träger der brisanten Thematik in ihren Köpfen auch noch weiterschwingen, wenn der Theaterabend vorüber ist. ('I want my music to be hummable'). Willy Russell führt uns hiermit eindringlich vor Augen, daß die Gesellschaft Verantwortung für den Einzelnen trägt (Vgl. hierzu Margaret Thatchers viel diskutierte Aussage aus der Zeit der Entstehung des Musicals: "There is no such thing as society").

Als Leitmotiv zieht sich der Bezug zu Marilyn Monroe durch das ganze Stück: Sie steht für die Welt des "make-believe", für die Erfüllung der Wünsche, die jeder hegt, sie ist aber auch diejenige, die an der Kälte und Lieblosigkeit ihrer Umwelt zugrunde geht. Sie steht einerseits für Lebensfreude ("He told me I was sexier than Marilyn Monroe"), andererseits für die Einsamkeit und die Flucht ins Vergessen ("Each day I pray he'll be OK, not like Marilyn Monroe" -- "He [Mickey] treats his ills with daily pills like Marilyn Monroe ".).

Deshalb wünscht sich Mickeys und Eddies Mutter am Ende, daß alles nur ein (Alp)Traum, nur Fiktion gewesen sei, das Ende eines traurigen Films, aus dessen Scheinwelt man sich schließlich wieder lösen kann:

Tell me it's not true,
Say I only dreamed it,
And morning will come soon.
Tell me it's not true,
Say you didn't mean it,
Say it's just pretend,
Say it's just the end
Of an old movie from years ago,
Of an old movie with Marilyn Monroe.

(Wolf-Werner Pickhardt)

 

 

 

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